Dreiländergiro 2012

Grenzprobleme

Um es vorweg zu nehmen: Wir fuhren die Strecke A, also die lange Strecke über 168 km und 3300 Hm. Das kleine Problemchen, welches die Organisatoren offensichtlich mit dem Kanton Graubünden hatten, und welches zur spontan eingerichteten „Strecke C“ führte, nämlich nach dem Stilfser Joch direkt wieder nach Hause …. , hat uns nicht betroffen. Keine Schwyzer Polizei auf unserer Runde. Ob die 60 Zurückgewiesenen nach uns oder vor uns gestoppt wurden, wissen wir bis heute nicht.

Samstag 17:00 Uhr

Anreise mit dem Auto in Nauders. Der Campingplatz „Alpencamping“ (www.camping-nauders.at) ist nicht an der BP-Tankstelle in Nauders selbst, sondern an der BP-Tanke 5 km nach Nauders Richtung Reschenpass kurz vor der Grenze nach Italien. Als höchstgelegener Campingplatz Österreichs bietet er nur wenige Stellplätze bei schlankem Komfort. Völlig ausreichend aber für die Zeit des Dreiländergiros, gut für den Geldbeutel (2 Pers., Zelt, Auto 14€), und ideal für jene, die dem Trubel in Nauders selbst entkommen wollen. Man kann nicht reservieren, man bekommt eine Ecke, wenn man selbst eine freie Ecke fürs Zelt findet … und wir fanden einen Streifen zwischen einem VW-Bus mit Anhänger und einem riesigen Wohnmobil. Alles Radler natürlich.

Startunterlagen in Nauders abhloen, Zelt aufbauen, alles einrichten, irgendwelche Pasta gab´s wohl aus dem Gaskocher, Maultaschen glaub ich, dann gegen 20:30 ins Zelt und … nicht schlafen vor lauter Aufregung.

Sonntag 4:45 Uhr

Der Wecker klingelt, noch mal kurz rumgedreht, meine Rippenprellung rechts von einem Asphaltsturz vom Cyclocrossrad schmerzt ob des harten Zeltbodens. Seit 4 Jahrzehnten liege ich regelmäßig auf diesem harten Zeltboden, maximal getrennt durch eine dünne Isomatte! Ich könnte mir so langsam mal eine schöne weiche Luftmatratze gönnen.
Rein ins Kurzarmtrikot, Armlinge drauf, Windweste drüber und raus zum „Frühstück“, das sab schon liebevoll zubereitet hat: 1 Tasse löslicher Kaffee und ein in Plastik eingepacktes kleines Brioche, welches ich nur zur Hälfte runterkriege um diese Uhrzeit.
Bei ca. 8 Grad, aber angesagten 20 Grad für den Tagesverlauf bei Sonne, entscheiden wir uns, ohne Beinlinge zu fahren, was sich später als richtig erwiesen hat. Um 5:45 Uhr rollen wir hinab nach Nauders und stehen kurz nach 6:00 im Startblock mit über 3000 weiteren Fahrern und Fahrerinnen.

6:30 Uhr

Als wir langsam Richtung Startbogen rollen, wissen wir nicht, dass angeblich vom Moderator gerade noch einmal auf den Reisepass hingewiesen wurde – man verstand da nichts, wo wir standen. Auch am Samstag während der Infoveranstaltung soll angeblich erwähnt worden sein, einen Pass mit auf den Giro zu nehmen, da waren wir aber gerade beim Zeltaufbau. Ein schriftlicher Hinweis mit den Startunterlagen, die einfachste und sicherste Variante, hatte der Veranstalter seltsamerweise nicht gewählt.

Mit mäßigem Tempo geht es über den Reschenpass nach Italien, einige rassige Abfahrten hinab zum Reschensee, irgendwo werden die weißen (Strecke A) von den roten (B) Startnummern getrennt, und plötzlich ist man in Prad und realisiert: jetzt muß man rauf aufs Stilfser Joch. Irgendetwas hatte ich gelesen von 48 unendlichen Kehren, wusste aber noch nicht, dass diese 48 unendlichen Kehren erst unendlich weit oben anfangen, nämlich in Trafoi (1543 m). Da hat man schon 600 Hm, und es sind nur noch 1200 Hm …

9:00 Uhr

Bis Trafoi hatte ich mich von sab abgesetzt. Wie immer habe ich anfangs mehr Punch, sab am Ende, so fuhr ich auch einige Wochen vorher beim Glocknerkönig unten weg, um exakt oben mit sab durchs Ziel zu fahren. Vor Trafoi schleift etwas am Rad, vor allem, wenn ich Gas gebe. Ich rüttle am Lenker, kucke vorne, kucke hinten, sehe nichts Außergewöhnliches und beschließe, erst in Trafoi einen technischen Stopp einzulegen. Hoffentlich ist es nicht die 12-30 Tiagra Kassette, die ich kurz vorm DLG auf meine Ultegra geschraubt und erst einmal testgefahren hatte. Mit Labestationsbanane quer im Mund richte ich in Trafoi das Hinterrad, muß wohl durch den Transport im Kofferraum etwas verstellt worden sein, und schon geht es weiter, jetzt in die bezeichneten 48 Kehren, die die Fahrer rückwärts zählend Richtung Pass geleiten.

Immer wieder Steigungen mit 12% bei 7,3% im Durchschnitt, saugen ganz allmählich den Saft aus den Beinen. Kleine Rämpchen mit bis zu 15% tun das Übrige. Unter der Baumgrenze sieht man das Ziel nicht, es folgt Kehre auf Kehre auf Kehre. Noch fahre ich 34-27, das 30er hebe ich mir noch ein wenig auf, aber lange wird es nicht mehr dauern. Irgendwann verschwinden die Bäume und man sieht die restlichen Kehren und – ganz weit oben – das Joch. Anfeuerungsrufe schallen von oben herunter, erst leise, dann lauter, und man wähnt sich schon fast im Ziel. Die Kehrennummer belehrt eines besseren – 25, 24, 23. So langsam wird das 30er Ritzel ausgepackt, zuerst an den steileren Stellen, dann permanent.

Kurz vor der Kehre 12 ist es soweit. Trotz 42000 Hm seit Okt 2011 in den Beinen und Glocknerkönig vor drei Wochen krampft es im rechten hinteren Oberschenkel. An der Kehre muß ich anhalten und 3-4 Minuten Pause machen, um nicht den kompletten Abbruch zu riskieren. Ich bin nicht allein. Quasi an jeder Kehre stehen Leidensgenossen, und an Kehre 10 stelle ich mich noch einmal dazu. Betretenes Schweigen. Manche fotografieren aus Verzweiflung. Kurz vor Kehre 6 bleibe ich noch einmal eine halbe Minute stehen, und als ich gerade wieder in die Klickies steige, höre ich hinter mir sab meinen Namen schreien. Also wie am Glockner, oben sind wir wieder zusammen.

Bis zum Joch läuft´s jetzt gut, die lange Abfahrt wird die Muskeln hoffentlich lockern, denn es müssen ja noch Ofenpass und Norbertshöhe und mächtig km gemacht werden. Kurz vorm Joch in der letzten Kehre eine Labe, hier halten wir uns gute 10 Minuten mit Tee, Iso, Banane und Manner auf. Letztere stauben im Mund, man kriegt sie kaum runter.

10:50 Uhr

Am Joch in die Windwesten und rein in die kurze Abfahrt zum Umbrailpass, zum Grenzübertritt in die Schweiz, und runter nach St. Maria. Die Abfahrt dorthin ist steil und lang und anstrengend. Richtig schnell kann man nicht fahren, max. 48 trauen wir uns, denn es gibt quasi keine Leitplanken. Ein Verbremser kann schlimme Folgen haben. Also langsam und sicher. Die 2 km Schotterweg („Naturstraße“) sind gut fahrbar, können aber u.U. zu einem Platten führen.

In St. Maria eine weitere Labe, hier füllen wir Wasser aufund essen staubiges Käsebrot. Ich hatte zwar 2 Flaschen am Rad, jedoch bald immer nur noch eine gefüllt. Laben beim DLG gibt es genug, und 0,75 kg weniger Systemgewicht waren mir wichtiger ob der mir eigentlich trotz 85 kg fremden Krampferfahrung am Stilfser.

Der Ofenpass eine Tragödie. Nicht besonders steil zieht er unendlich lange dahin. Ich hatte ein Gel genommen, verspürte aber absolut keine Wirkung. Vor uns, hinter uns die gleichen Tragödien leidender Rennfahrer. Nach einer Bedürfnispause bekomme ich nicht gleich eine Lücke in der Ameisenstraße der Fahrer, den dadurch entstehenden Abstand zu sab von 75 m kann ich bis zum Pass nicht mehr zufahren.

13:00 Uhr

Der Ofenpass ! Endlich ! Was für ein Leiden ! Oben eine Labe, die da eigentlich nicht sein sollte, irgendetwas essen und trinken wir, keine Erinnerung mehr was, dann das alte Spiel, Windwesten an und rein in die Abfahrt. Die Abfahrt wird irgendwann flach, zieht sich ebenso ewig dahin wie die Auffahrt, saugt die letzten Kräfte ab, und steilt dann, wenn man so richtig schön mürbe ist, plötzlich auf zum Ova Spin, einer unangenehmen Gegensteigung. Geschafft. Noch sind wir beide zusammen, die Ränge um uns herum haben sich aber gelichtet, das Fahrerfeld ist weitestgehend auseinander gezogen.

Die Abfahrt nach Zernez verläuft unspektakulär, die dortige Labe lassen wir ob der noch gefüllten Flaschen aus. Die leicht abfallende, wellige Weiterfahrt durchs Unterengadin nach Martina mit ihren 44 km zieht sich nun wie Kaugummi. An Baustellen und Ampeln werden wir von freundlichen Helfern sicher geleitet. Das flache Kurbeln liegt uns nicht so sehr, ich fahre meist im Wind, gelegentlich können wir uns einige Minuten hinter anderen verstecken, dann sind diese schneller oder langsamer, und man überholt und ist wieder im Wind. So geht es bis zur Grenzstation Martina, wo wir an der letzten Labe rasten.

15:15 Uhr

Der Zustand der Laben zeigt an, wo im Rennen man sich befindet. Betritt man einen Haufen Müll und Bananenschalen, und hört man die freundlichen Labehelfer sagen: „Cola haben wir leider nicht mehr“ oder „Käsebrot ist aus, aber wir haben noch Bananen“, dann ist man hinten. Ganz hinten. In Martina gab´s keine Käsebrote und keine Cola mehr.

Die Flaschen gefüllt, satteln wir auf hinein in die Norbertshöhe. Ich hatte keine Ahnung mehr, wie viel Hm hier noch zu überwinden waren. 200, 400 ? Es sind 400. Zu Hause schnell mal weggefahren, quäle ich mich die Norbertshöhe als infernales Ende des DLG hinauf. Die ersten der 11 Kehren bin ich vorne, dann der Einbruch, sab zieht langsam an mir vorbei, der Abstand wird Meter für Meter größer, am Ende sind es 100, wo ist mein 40er Ritzel? ich höre einen Schrei oben am Pass, der ist schon oben, ich noch nicht, ein Schild „Gasthof Norbertshöhe“, jetzt ich auch. Trikot schließen und den letzten km nach Nauders runter. Ich wollte sab wieder einholen, die steht aber schon hinterm Startbogen, als ich ENDLICH durchfahre.

16:03 Uhr

Ich höre meinen Namen durch den Lautsprecher. Eigentlich eine tolle Sache, auch nach 9:33 wird jeder Finisher persönlich begrüßt. Ich fühle mich wie Andy Schleck, uns unterscheidet nur der BMI von 28 (Schleck) statt 19 (ich …). Ach ja, und sab hat mich um über eine Minute geschlagen.

Ich liege auf der Wiese am Festzelt, 15-20 Minuten geht nichts mehr. Den Startunterlagenverzehrgutschein von 4,- € haben wir im Zelt vergessen, wir holen uns trotzdem Schnitzel, Kartoffelsalat und Pommes, die wir aber ob der Riesenportionen nicht aufessen können.
Die blauen Finishertrikots gibt´s gegen die Transponder.

17:15 Uhr

Während der ansteigenden Rückfahrt zum Zeltplatz realisieren wir schmerzlich den einzigen Nachteil desselben. Man mag nach 3500 Hm einfach nicht mehr hoch fahren. Aber auch diese 5 km bei starkem Gegenwind vergehen. Gut, dass wir heute nicht mehr nach Hause fahren müssen, sondern uns einen Tag Urlaub genommen haben. Nach der Dusche gegen Wertmarke aus der Tankstelle sieht die Welt schon wieder anders aus. Der Tag auf dem höchstgelegenen Campingplatz Österreichs nach unserem ersten Marathon mit mehr als 3000 Hm klingt aus mit Trinken, Pasta, Schlafen.

Xter Juni 2013, 6:30 Uhr

Unter 9 Stunden ist heute das Ziel. Voraussetzung ist, dass der Kanton Graubünden mitspielt und hoffentlich der 20. Jubiläumsgiro stattfindet.

 

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